Success Stories
Was macht eigentlich…? Die Deloitte-Stiftung vergibt seit vielen Jahren den Hidden-Movers-Award. Wir fragen: Was ist aus den preisgekürten Unternehmen geworden?
2015 gewann das Hamburger Social Business Bridge & Tunnel den Hidden Movers Award. Wie geht es dem Unternehmen acht Jahre später?
Hamburg-Wilhelmsburg, Sommer 2015: Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt, aber auch als Ort für kreative Ideen. Mit dem Rest der Stadt ist Wilhelmsburg – die größte Binneninsel Deutschlands – nur über Brücken und Tunnel verbunden. Und genau hier, in Hamburgs „Hinterhof“, haben Dr. Constanze Klotz und Hanna Charlotte Erhorn das „Stoffdeck“ eröffnet, einen kreativen Co-Working-Space mit Nähmaschinen und Siebdruck-Arbeitsplätzen. Weil die beiden Gründerinnen sich auch für die umliegende Nachbarschaft öffnen wollen, beginnen sie, einmal wöchentlich eine offene Nähwerkstatt anzubieten, auch ein deutsch-türkischer Nähclub nimmt daran teil. Der Effekt ist enorm. „Wir waren überwältigt von dem handwerklichen Talent der Frauen“, erinnert sich Constanze Klotz. Die Idee: Soziale Teilhabe trifft Slow Fashion
Inspiriert durch das Talent der Frauen, die zugleich keine verbrieften Qualifikationen darüber haben, beschließen Klotz und Erhorn, ein Social Business ins Leben zu rufen. „Die Frauen, die zum Nähen zu uns kamen, hatten auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen“, so Klotz. Die Idee: das Talent zusammenbringen mit sozialer Teilhabe, das Geschick mit Nadel und Faden verknüpfen mit einer beruflichen Perspektive. Im Sinne von Slow Fashion und Nachhaltigkeit wollen die Gründerinnen ausschließlich Stoffe verarbeiten, die aus zweiter Hand kommen, etwa aus Kleiderkammern, aus Überhängen oder Fehlproduktionen. Gesagt, getan: Klotz und Erhorn gründen ein Unternehmen und nennen es Bridge & Tunnel – der Name passt zu Wilhelmsburg, aber er beschreibt auch das, was das Unternehmen vorhat: Brücken bauen – in den Arbeitsmarkt, in die Kreislaufwirtschaft, in die nachhaltige Mode. Hanna Charlotte Erhorn kümmert sich als diplomierte Textildesignerin um das operative Geschäft, entwickelt eine Produktpalette und entwirft Schnitte. Constanze Klotz, eigentlich promovierte Kulturwissenschaftlerin, betreut Sales und Marketing. Schnell fällt der Schwerpunkt auf Denim: Aus alten Jeans entstehen bei Bridge & Tunnel Accessoires wie Taschen oder Reisegepäck, ausgewählte Fashionteile wie Jacken, aber auch Heimtextilien wie Kissenbezüge oder Plaids. Mit an Bord: einige der Frauen aus dem Nähclub – die allerdings bei Bridge & Tunnel in Lohn und Brot stehen. Viele sind zum ersten Mal überhaupt sozialversicherungspflichtig beschäftigt und verdienen zum ersten Mal eigenes Geld. „Ausgezeichnet zu werden, hat uns massiv geholfen.“
So sinnstiftend die Idee, so schwer die betriebswirtschaftliche Umsetzung. Klotz und Erhorn kämpfen mit organisatorischen und finanziellen Hürden, sind unsicher, wie sie ihr Social Business so aufstellen, dass es zukunftsfähig ist. Auf der Suche nach Orientierung bewerben sich die beiden für den „Hidden Movers Award“ der Deloitte-Stiftung – und gewinnen. „Der Award war für Bridge & Tunnel ein absoluter Durchbruch“, so Constanze Klotz. „In einem deutschlandweiten Wettbewerb ausgezeichnet zu werden, hat uns massiv beim Fundraising und dem Finden von Partner:innen geholfen.“ Der Gewinn des Hidden Movers Awards bedeutete für Bridge & Tunnel allerdings weit mehr als Renommee und Sichtbarkeit. Denn: Teil des Gewinns ist es, ein Jahr lang von Deloitte-Berater:innen begleitet zu werden. Für Klotz und Erhorn war diese Beratung genau das, was sie in der damaligen Phase gebraucht haben. „Wir standen vor einem Wust an organisatorischen Fragen: Wie planen wir unsere Produktionskapazitäten, welche Mengen an Denims müssen wir beschaffen, und wie viele Näherinnen braucht es? Und vor allem auch: Wie setzen wir unsere Kalkulation optimal auf?“ Constanze Klotz erinnert sich gut an die Beratungssessions, spricht von „gigantischen Excel-Listen“, die sie gemeinsam mit den Pro-bono-Berater:innen erarbeiteten. Mehr als ein Fair-Fashion-Brand
Hamburg-Wilhelmsburg, Sommer 2023: Bridge & Tunnel hat sich erfolgreich etabliert, vertreibt Mode und Accessoires in ganz Deutschland. Vor Kurzem hat das Unternehmen ein Boutiquehotel in St. Peter-Ording mit Heimtextilien ausgestattet. Der Schwerpunkt liegt auch acht Jahre später noch auf Denim. Und wie 2015 sitzen an den Nähmaschinen Frauen aus der Nachbarschaft mit ganz unterschiedlichen Geschichten. Eine abgeschlossene Berufsausbildung haben die wenigsten – die Gründerinnen halten fest an ihrem Ansatz, benachteiligten Frauen Zugänge in den Arbeitsmarkt zu schaffen. „Zeugnisse sind nicht alles im Leben“, sagt Constanze Klotz, „wir nennen das ‚Talents over diploma‘ – und wir erleben, wie Frauen durch die Arbeit bei Bridge & Tunnel an Selbstbewusstsein gewinnen, sich entfalten und sich einen Wirkungskreis außerhalb der Familie erschließen.“ Bridge & Tunnel ist längst nicht mehr nur ein Onlineshop, sondern stößt auch immer wieder Debatten rund um den Umgang mit Mode und Textilien an. Ein Podcast („Talk slow“) und der unternehmenseigene Fair Fashion Blog informieren über nachhaltige Mode, geben Inspiration und laden ein zum Nach- und Weiterdenken. Für zahlreiche B2B-Partner wie Levi’s, Tchibo, Aurubis oder Hellmann Worldwide Logistics bietet das Label seit etlichen Jahren zudem Upcycling aus eigenen Textilresten an. Was 2015 ein Hidden Mover war, ist 2023 zum Thought Leader geworden. Wir sind gespannt, was noch kommt!
Co-Gründerin Constanze Klotz (rechts) sagt, dass der Hidden Movers Award der Deloitte-Stiftung ihrem Unternehmen enormen Aufwind gegeben hat.
Bridge & Tunnel setzt auf Slow Fashion: Weniger und bewusster kaufen, in bessere Qualität investieren und Kleidung länger nutzen. Denn: Mode ist ein echter Klimakiller und verursacht jedes Jahr weltweit 1,2 Milliarden Tonnen Tonnen CO2.
Früher deutsch-türkischer Nähclub, jetzt Slow-Fashion-Unternehmen: Bridge & Tunnel bringt talentierte, aber sozial benachteiligte Frauen aus Hamburg-Wilhelmsburg in Arbeit.
Wir schreiben das Jahr 2009. Ute Schnebel betreut als wissenschaftliche Mitarbeiterin den Masterstudiengang „Straßenkinderpädagogik“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Zuge dessen reist sie nach Kolumbien. Ein Land, in dem Schätzungen zufolge rund 30.000 Jungen und Mädchen auf der Straße leben – verlassen, verstoßen und vergessen. In Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, begleitet Ute Schnebel Lehramtsstudierende auf der Straße, die diesen Kindern ein Mindestmaß an Bildung verschaffen wollen. Eine für sie prägende Erfahrung: „Zu sehen, wie viel Entwicklungspotenzial in diesen jungen Menschen steckt und wie glücklich sie über diese Möglichkeit sind, hat mich zutiefst bewegt“, erzählt Ute Schnebel rückblickend. „Hier wurde mir bewusst: Bildung ist ein Menschenrecht. Und niemand darf davon ausgeschlossen werden, egal wie widrig und hoffnungslos die Umstände anfangs auch erscheinen mögen. Zeit in Kolumbien legt Grundstein für „Das andere SchulZimmer“
Inspiriert und motiviert, etwas für junge Menschen im Bereich Bildung zu tun, kehrt Ute Schnebel nach Deutschland zurück. 2018 gründet sie schließlich „Das andere SchulZimmer“ in Mannheim. Das Herzensprojekt verfolgt den Ansatz, Schulabbrecher:innen zwischen 15 und 27 Jahren eine zweite Chance und somit eine berufliche Zukunft zu ermöglichen. Frontalunterricht und überfüllte Klassenzimmer gehören hier der Vergangenheit an. Der Fokus liegt auf individueller, flexibler und niedrigschwelliger Betreuung. Die Jugendlichen können zudem vor und nach dem Unterricht mit ehrenamtlichen Lehr- und Honorarkräften auch über individuelle Herausforderungen sprechen – zum Beispiel Armut, Drogenkonsum oder fehlenden Rückhalt im Elternhaus – und diese gemeinsam bearbeiten. „Das andere SchulZimmer“ ist ein großartiges Projekt, das in einem der sozialen Brennpunkte Deutschlands einen wirklichen Mehrwert schafft. Verdientermaßen hat es 2020 den mit 25.000 Euro dotierten Hidden Movers Award in der Kategorie „Wachstum“ gewonnen. Wir wollten von Ute Schnebel wissen: Was ist seit damals passiert? Und welche Pläne gibt es für die Zukunft? Die Antworten gibt’s im Interview.
Seit 2018 haben 65 Schüler:innen im Projekt ihren Schulabschluss gemacht, 63 davon mit Erfolg. Der Bedarf ist groß: Aktuell stehen 80 Namen auf der Warteliste.
Frau Schnebel, welchen Effekt hatte der Hidden Movers Award auf die Entwicklung von „Das andere SchulZimmer“? Schnebel: Einen riesigen – ich kann das wirklich nicht oft genug betonen. In erster Linie haben wir natürlich große öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Das ist für uns insofern wichtig, als dass wir nach wie vor auf private Unterstützung angewiesen sind. Sei es durch ehrenamtliche Tätigkeiten oder Spenden von Privatpersonen, Firmen und Stiftungen. On top kam natürlich das Preisgeld, dank dessen wir das Projekt eine Zeit lang tragen konnten und zusätzliche Ressourcen hatten, uns über die zukünftige Entwicklung Gedanken zu machen. Der Award beinhaltete auch ein Coaching durch die Social Entrepreneurship Akademie und eine individuelle sechsmonatige Pro-bono-Beratung durch Deloitte-Expert:innen. Schnebel: Richtig. Auch dafür bin ich sehr dankbar. Denn im Rahmen dieser beiden Angebote haben wir genau hingeschaut: Wie ist der Istzustand? Wie sind wir organisiert? Und was brauchen wir? Dadurch konnten wir unsere Strukturen professionalisieren und Ideen weiterentwickeln. Zum Beispiel? Schnebel: „Das andere SchulZimmer“ setzt an der Schnittstelle Bildung und Soziales an. Wir betrachten also auch die aktuelle Lebenslage der Schüler:innen und arbeiten gemeinsam an Problemen. Im Laufe der Zeit – genauer gesagt: während der Coronapandemie – haben wir jedoch gemerkt, dass wir das mit zwei Hauptamtlichen nicht leisten können. Also haben wir uns Gedanken gemacht und Anfang 2023 „My Life – My Future!“ bei uns integriert. Das Projekt finanzieren verschiedene Stiftungen, es hat eine Laufzeit von drei Jahren und wird von einer ehemaligen ehrenamtlichen Mitarbeiterin von uns koordiniert. Sie ist Sozialarbeiterin und kümmert sich mit viel Herz und Engagement um die Belange unserer Schüler:innen. Ein weiteres Beispiel ist das dreijährige Projekt „Gemeinsam gegen Schulabbruch“. Hier geht es primär um Kooperationen mit Schulen und Präventionsarbeit. Schüler:innen kommen in unsere Räumlichkeiten, erhalten bei uns in Absprache mit der jeweiligen Schule, an der sie gemeldet sind, Unterricht, schreiben bei uns ihreTests und Klassenarbeiten und am Ende die Abschlussprüfungen an der Schule mit.
Wie viele Schüler:innen haben bis heute ihren Abschluss bei „Das andere SchulZimmer“ gemacht? Schnebel: Seit 2018 haben 65 Schülerinnen und Schüler eine Abschlussprüfung bei uns abgelegt, 63 davon mit erfolgreichem Abschluss. Wir liegen aktuell also bei einer Erfolgsquote von 97 Prozent. In diese Zahlen sind aber natürlich nicht diejenigen eingerechnet, die beispielsweise nach drei Wochen nicht mehr wiederkommen. Aber auch hier gilt: Die Tür steht immer offen. Welche Pläne und Ziele haben Sie für die Zukunft? Schnebel: In erster Linie, dass wir weiter so viele junge Menschen wie möglich unterstützen. Deswegen beschäftigen wir uns mit der Frage: Wie können wir die Anzahl der Schulplätze erhöhen? Im Herbst 2021 haben wir von 10 auf 20 Plätze pro Schuljahr aufgestockt. Wobei es faktisch 30 sind, weil wir natürlich immer eine gewisse Fluktuation mit einberechnen. Dieses Angebot wollen wir perspektivisch ausbauen. Denn der Bedarf ist enorm. Aktuell stehen 80 junge Menschen auf unserer Warteliste. Deswegen fragen wir uns aktuell, was es da für Möglichkeiten gibt – ob bei uns oder durch die Schaffung weiterer Standorte. Ist das realistisch? Schnebel: Am Ende steht und fällt alles mit dem lieben Geld. Trotz aller Unterstützung, über die wir natürlich sehr dankbar sind und ohne die es „Das andere SchulZimmer“ nicht geben würde, steht fest: Eine stabile Finanzierung sieht anders aus. Personal- und Mietkosten schlagen am höchsten zu Buche und müssen reingeholt werden. Deswegen ist es das primäre Ziel, mehr öffentliche Gelder für unsere Arbeit zu erhalten. Nur so können wir in Zukunft eine stabile Finanzierung gewährleisten. Vielen Dank für das Gespräch. Schnebel: Ich habe zu danken.
„Wir setzen an der Schnittstelle zwischen Bildung und Sozialwesen an“, so Ute Schnebel, Initiatorin von „Das andere SchulZimmer“.
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